Von Augsburg nach St. Petersburg – und zurück

Die „Ansiedlung Ost“ – eine linke Auswandererbewegung

Etwa 150 Augsburger fanden am Abend des 11. Februar 1920 den Weg in den Saal der „Gesellschaftsbrauerei“. „Auswanderungsmöglichkeit nach Sowjetrussland“ lautete der Titel des Vortrags, den der Referent, ein gewisser Herr Seger aus Fürth, dort zum Besten gab. Seger gehörte der Vereinigung „Ansiedlung Ost“ an, welche sich kurz zuvor in Leipzig gebildet hatte. Das Ziel dieses Vereins: Die Anwerbung von Arbeitern zur Auswanderung nach Russland.

In den kommenden beiden Stunden berauschte Seger die Anwesenden geradezu mit seinen Erzählungen. Er sprach von der aufstrebenden sowjetischen Wirtschaft, von Steuerbefreiungen und staatlichen Fördergeldern, reizvollen Landschaften und günstigen Lebensmitteln. Kräftige, gesunde und moralisch einwandfreie Auswanderer, überzeugte Sozialisten nach innen und außen suche man für den Aufbau neuer Siedlungen bei St. Petersburg und für die Arbeit in den Fabriken. Ein Honigschlecken wurde den Augsburgern gerade für die Anfangszeit zwar nicht prophezeit. Doch schlechter als in Deutschland könne es den Arbeitern in keinem Fall ergehen.

Segers Erzählungen fielen bei den Zuhörern auf fruchtbaren Boden. Die wirtschaftliche Krise der Nachkriegszeit, Nahrungsmittelengpässe und brüchige politische Verhältnisse hatten auch Augsburg zu Beginn der 1920er Jahre fest im Griff. Gerade die jüngere Bevölkerung sah unter diesen Bedingungen keine Perspektive in ihrer Heimat. Hunderttausende kehrten in der Folge Deutschland den Rücken – zumeist in Richtung Übersee. Eine Gruppe linksgerichteter Idealisten hingegen hatte nun andere Visionen: Ein Leben im jungen Sowjetrussland. Wenige Tage nach Segers Auftritt gründeten sie – wiederum im Saal der Gesellschaftsbrauerei – ihren eigenen Ortsverein.

In der Folgezeit wurde das städtische Einwohneramt mit Passanträgen nach Russland geradezu überschwemmt. 99 Namen zählt die nicht vollständig überlieferte Liste der Auswanderungs-willigen. Meist suchten junge Männer, zum Teil aber auch ganze Familien ihr Glück in der Ferne. Ob alle Siedleranwärter dem Anspruch einer moralisch einwandfreien Vergangenheit gerecht wurden, ist zumindest fraglich. Nicht wenige von Ihnen waren bereits zuvor wegen kleinerer und größerer Ordnungswidrigkeiten und Straftaten aktenkundig geworden.

Unklar bleibt, wie viele Augsburger tatsächlich dem Ruf nach Russland folgten – und wer dort langfristig blieb. Schon im Herbst 1920 mehrten sich die Berichte von desillusionierten Rückwanderern, die von schlechten Arbeitsbedingungen und Zwangsrekrutierungen zum Militär berichteten. Ein Großteil kehrte in der Folge zurück nach Deutschland.

WILHELM FEDERLE

Wilhelm Federle wurde am 7. Januar 1902 in Lauingen geboren. Die Arbeiterfamilie zog wenig später nach Augsburg, wo Wilhelm die Volksschule besuchte. Seit 1915 war er in der Augsburger Metallindustrie beschäftigt, ab 1918 verdiente er sein Geld als Bodenleger. Wilhelm Federle war 18 Jahre alt, als er sich für die Auswanderung nach Russland entschied. Sofern er sein Ziel überhaupt erreichte, kehrte er bald in die Heimat zurück. Wenige Monate nach Beantragung seines Reisepasses war er wieder in Augsburg wohnhaft. Seiner politischen Haltung blieb er dabei treu. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Nach der Verteilung von Flugblättern wurde Wilhelm 1933 verhaftet. Unmittelbar nach der Errichtung des Konzentrationslagers Dachau wurde er als politischer Häftling dorthin verbracht und erst nach zwei Jahren Haft entlassen. Zwischen 1941 und 1944 war Federle bei der Wehrmacht in Bau-Bataillonen in Polen und Russland eingesetzt. Nach Kriegsende fand er Anstellung beim Wohlfahrtsamt, später beim Lohnamt und Jugendamt der Stadt Augsburg. Er verstarb am 3. Juli 1969.


OTTO UND MAGDALENA EUBA

Otto Euba kam am 30. Mai 1892 in Augsburg zur Welt. Als junger Mann verdiente er sein Geld als „Hausbursche“ in Hotels und Kaufhäusern und als Hilfsarbeiter bei Augsburger Firmen. Im Ersten Weltkrieg diente er in einem Infanterieregiment und war zeitweise für Arbeiter bei der MAN vom Dienst freigestellt. Ottos 1915 geschlossene Ehe überdauerte diese schwierigen Jahre nicht, schon 1919 folgte die Scheidung. Im Februar 1920 heiratete er die Fabrikarbeiterin Magdalena geb. Leutenmayer, die zu diesem Zeitpunkt bereits ein Kind erwartete. Während der Planung der Auswanderung nach Russland erklärten Eubas vor dem Augsburger Standesamt ihren Austritt aus der katholischen Kirche. Auch Otto und Magdalena Euba wurden nicht im Osten ansässig. In den 1920er Jahren hielt sich die Familie in Augsburg auf, zeitweise führte Otto dort einen Trödelhandel. 1926 verzogen Eubas nach München.