5.4 Wasserkunst, Sport und Spionage

Es hätte perfekt sein können. Augsburg erhielt bei den Olympischen Spielen 1972 den Zuschlag für die Austragung der Wettkämpfe im Kanuslalom. Mit einer neuen, anspruchsvollen Sportanlage am Eiskanal hofften die Augsburger Kanuten auf einen Heimvorteil – und gingen damit Baden!

Der Eiskanal in Augsburg, bereits 1957 Austragungsort der Kanu-Weltmeisterschaften, war auch bisher durch seine wasserbaulichen Verhältnisse eine anspruchsvolle Strecke. Für die olympischen Spiele sollte er in die weltweit erste künstliche Wildwasserstrecke umgerüstet werden – eine besondere Bühne für besondere Spiele.

Bevor sich die Landschaftsarchitekten an den Bau des künstlichen Slalomparcours machten, gingen die Augsburger Baufachleute auf Nummer sicher. Im MAN-Werk Gustavsburg, bekannt für seine Modellversuchsanlagen, wurden Betonrinne, Hindernisse und Strömungen in einer verkleinerten, maßstabsgetreuen Teststrecke genau erprobt und abgestimmt – ein Vorsprung für die deutschen Kanuten?

Die brandneue Anlage mit seinen künstlichen Hindernissen war mit einer natürlichen Strecke nicht zu vergleichen, denn durch die Steilwände schwankte das Wasser sehr stark und erforderte eine völlig andere Fahrtechnik. Dies bekamen vor allem die DDR-Athleten zu spüren, die hier beim ersten Testlauf, einem internationalen Wettkampf am 22. August 1971, „nur“ zwei Bronzemedaillen einfuhren. Dieses miserable Ergebnis durfte sich für den amtierenden Weltmeister nicht wiederholen! Für die DDR hatten die Wettkämpfe 1972 auch politisch einen extrem hohen Stellenwert: Es waren die ersten Sommerspiele, bei denen die Ostdeutschen unter eigener Flagge und mit eigener Hymne antreten durften. Dem „Klassenfeind“ hierbei auf sportlichem Weg Überlegenheit zu demonstrieren, war also ein absolutes Muss – zumal der Kanuslalom in diesem Jahr erstmals als olympische Disziplin vertreten war.

Um dem drohenden Desaster zu entgehen, griffen die DDR-Sportfunktionäre zu einer einmaligen List. Ein Nachbau der Augsburger Anlage auf einem Gelände im Osten sollte helfen, die Verhältnisse der künstlichen Strecke besser zu erproben. In nur drei Monaten Bauzeit – von November 1971 bis Februar 1972 – stampfte man in einem alten Mühlgraben bei Zwickau ein kleineres „Double“ des Augsburger Eiskanals aus dem Boden. Ohne die genauen Baupläne zu kennen, machte man sich ans Werk. Die nötigen Informationen dazu verschaffte der DDR-Trainer Werner Lempert, der mit Fotoapparat, Skizzenblock und Meterstab „bewaffnet“ an der Augsburger Baustelle ein und aus ging. (b)

Ob Spionage oder doch nur sportliche Überlegenheit – das „Unternehmen Olympiagold“ der Ost-Athleten ging auf: nach einigen Wochen Training in der Zwickauer Kanalkopie gewannen die DDR-Kanuten bei den olympischen Spielen im August 1972 Gold in allen vier Wettbewerben und verwiesen die BRD-Sportler, die sich ebenfalls zur Weltspitze zählten, mit deutlichem Abstand auf den vierten Platz.

Glücklicherweise sind die Tage des „Kalten Kriegs“ auch auf dem sportlichen Sektor gezählt. Doch ein Triumph bleibt den Augsburgern: Zum 50. Geburtstag der Wettkampfstrecke am Eiskanals wird im Jahr 2022 wieder eine Kanu-WM in Augsburg stattfinden – und über die „Zwickauer Sache“ ist längst Gras gewachsen… (b)

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