„Hier hatte eine sonst schweigende Mehrheit eine Stimme“

08.07.2021 14:52 | Öffentlichkeitsbeteiligung Freizeit Umwelt & Soziales Bürgerservice & Rathaus

Mit seiner achten Sitzung am gestrigen Mittwoch schließt der Bürgerbeirat Corona vorerst seine Tätigkeit ab; die Themenschwerpunkte waren diesmal: Jugendliche/Nachtleben, Schulen und Kitas, Impfen und Testen.

Bürgerbeirat Corona. Foto: Ruth Plössel/Stadt Augsburg

Bei seiner vorerst letzten Sitzung tagte der Bürgerbeirat Corona der Stadt Augsburg in Präsenz im Oberen Fletz des Rathauses. Foto: Ruth Plössel/Stadt Augsburg

In seiner achten und vorerst letzten Sitzung standen beim Bürgerbeirat Corona das Nachtleben und die Randale auf der Maximilianstraße, die schwierige Diskussion um Luftfilteranlagen in Schulen und Kitas, sowie das Impfen und Testen auf der Tagesordnung.

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Regulierende Wirkung der Nacht-Ökonomie

Ausgehend von den Ausschreitungen gegen Polizei und Rettungsdienste auf der Maxstraße vor gut zwei Wochen, wurde nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen diskutiert, die derzeit das Nachtleben auf der Prachtstraße reglementieren. „Was hat das alles mit Corona zu tun?“, wollte ein Teilnehmer wissen. Oberbürgermeisterin Eva Weber führte dazu aus: „In dieser Nacht ist Unfassbares passiert. Viele Mitläufer, die sich mit den Krawallmachern solidarisiert haben, wären vermutlich sonst in Clubs, Discotheken und Bars gewesen. Doch die sind aus Gründen des Infektionsschutzes geschlossen. Das hat sehr wohl etwas mit Corona zu tun“, so die OB. Sie versicherte, dass die geltenden Beschränkungen sicher nicht über Gebühr hinaus aufrechterhalten würden. „Aber wir müssen als Stadt auch Grenzen setzen. Hier geht es um unsere Sicherheit. Immerhin ist Augsburg die zweitsicherste Stadt Deutschlands. Diese Position gilt es, zu halten.“ Gleichzeitig zeige die Situation aber auch, so die OB, welche stark regulierende Wirkung die Nacht-Ökonomie habe.

Balance-Akt zwischen Vorsicht und Genuss

„Wir passen auf unsere Stadt auf und wir genießen sie“, beschrieb Ordnungsreferent Frank Pintsch den aktuellen Balance-Akt. Wichtig sei, durch Aktionen in den Stadtteilen und in der Innenstadt Nutzungsdruck von der Maximilianstraße zu nehmen und das nächtliche Geschehen zu entzerren. Der Bürgerbeirat Corona war sich einig, dass das Nachtleben in der Maximilianstraße und anderswo in der Stadt so schnell wie möglich wieder öffnen müsse. „Alles was uns Spaß macht, wurde uns genommen. Die psychosozialen Auswirkungen sind sehr groß“, sage Jonas Wiedemann stellvertretend für die Jugend im Beirat über die Wirkungen der Infektionsschutzmaßnahmen gegen Corona. Er appellierte an die städtische Sozialverwaltung, umgehend wieder mehr Angebote zu schaffen.

Offene Pausenhöfe und Open-Air-Angebote

Sozialreferent Martin Schenkelberg listete dazu einen Katalog an Maßnahmen auf – von der Öffnung von Pausenhöfen für Jugendliche bis hin zur Stärkung von Streetwork und der Jugendsozialarbeit an Schulen. „Auch die Jugendzentren müssen stärker in die Stadtteile hineinwirken und mehr Open Air-Angebote machen. Ich sehe das auch als Signal, dass alle willkommen sind.“ Die Suche nach einem neuen Standort für ein Jugendzentrum in Haunstetten sei „auf einem guten Weg“, so Schenkelberg.

Es braucht mehr als Luftfilteranlagen

Mit Blick auf die Zeit nach den Sommerferien und den Schulbeginn wurde einmal mehr das Thema „Luftfilteranlagen“ erörtert. „Ein sehr schwieriges Thema“, betonten OB Eva Weber und Bildungsbürgermeisterin Martina Wild übereinstimmend. Es fehle an Vorgaben zu Ausschreibungen und zu den Geräten selbst. Zum Schutz der Kinder an Schulen und in Kitas seien nicht nur Luftfilteranlagen, sondern ein ganzes Maßnahmenbündel erforderlich, betonte Beiratsmitglied Alexandra Barl. So müsse unter anderem das Testen an Kitas erheblich vereinfacht werden. Bürgermeisterin Martina Wild verwies auf flächendeckende Lolly-Tests, die für Kinder als Zielgruppe besser gewesen wären.

Vorschlag für mobiles Impfen auch im Nachtleben

Sehr gut aufgenommen wurde vom Bürgerbeirat Corona die Information über das Impfen in mehreren Sprachen auf der städtischen Homepage www.augsburg.de. OB Eva Weber verwies auf die neue Kampagne, bei Augsburgerinnen und Augsburger aus der Mitte der Stadtgesellschaft erläutern, warum sie sich haben impfen lassen. In Kürze werde auch in Stadtteilen mobil geimpft. Auf Nachfrage zur Impf-Situation von Studierenden führte Gesundheitsreferent Reiner Erben aus, dass ein mobiles Impf-Team auch die Universität anfahre. Den Vorschlag von Beiratsmitglied Roland Simon, „auch im Nachtleben ein mobiles Impfangebot zu machen, in Zeiten wo Impfmengen wachsen und Impfwillige weniger werden“, nahm Erben auf.

Bundesweite Vorreiterrolle und für Preis nominiert

Abschließend zog Oberbürgermeisterin Eva Weber Bilanz zur Tätigkeit des Bürgerbeirats Corona. Das Gremium war im November 2020 gestartet und tagte seither acht Mal – Corona bedingt überwiegend virtuell. Die Struktur des zehnköpfigen Beirats als repräsentativer Querschnitt der Augsburger Bevölkerung, sein Empfehlungscharakter für Politik und Verwaltung, wie auch die direkte Kommunikation mit der Stadtspitze und Experten hatte als Konzept eine bundesweite Vorreiterrolle. Das BürgerForm Covid 19 in Thüringen etwa, das auf Landesebene agiert, wurde nach dem Augsburger Bürgerbeirat-Modell entwickelt.

Selbständige Entscheidung über Inhalte

„Viele Menschen wollen sich einbringen und deshalb auch gehört werden. Deshalb war es für mich naheliegend, mit Augsburger Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen und sie mit dem Bürgerbeirat Corona der Stadt Augsburg demokratisch an Lösungswegen zur Pandemiebewältigung auf kommunaler Ebene zu beteiligen“, so Oberbürgermeisterin Eva Weber. Welche Inhalte diskutiert wurden, hat das Gremium selbständig entschieden - auch wenn Vieles nicht in die Regelungs- oder Entscheidungskompetenz der Stadt, sondern des Landes oder des Bundes fällt. Die Stadt übernahm dabei lediglich eine begleitende Rolle.

Eine Reihe von Projekten angeschoben und realisiert

Diskutiert wurde über Themen wie Schule und Kita, Information und Kommunikation, bürgernahe Unterstützungsangebote während des Lockdowns, Senioren, Kunstschaffende, Testen und Impfen, Einzelhandel und Gastronomie sowie Kultur und Sport. Dem Bürgerbeirat ist es gelungen, das Thema Corona stärker zu emotionalisieren, um die Stadtbevölkerung abseits nüchterner Inzidenzzahlen zu erreichen. Ein Film über die Situation auf einer Corona-Intensiv-Station an der Uniklinik, Berichte von Corona-Erkrankten sowie zahlreiche Reportagen der ortsansässigen Medien waren das Ergebnis. Auch die Aufklärung über Impf-Mythen auf der städtischen Homepage, Info- und Aktivierungskampagnen wie #augsburgbewegt oder das Corona-Infomobil sind aus der direkten Bürgerbeteiligung umgesetzt und realisiert worden. Die Vielzahl an Vorschlägen ist unter www.augsburg.de/buergerbeirat-corona aufgeführt.

Gehört werden und eingebunden sein als Erfolgsfaktoren

Das „offene Ohr“ von Politik und Verwaltung für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, gehört werden, eingebunden sein, etwas bewirken können, als Jugendlicher mitmachen dürfen und eine Diskussion auf Augenhöhe, nannten die Teilnehmenden als Erfolgsfaktoren für da Gelingen des Bürgerbeirats Corona. „Hier wurden nicht die Lauten gehört, die sonst immer zu hören sind. Hier hatte die sonst schweigende Mehrheit eine Stimme“, sagte Dr. Seyed-Mahdavi Riuz.

Großer Beitrag zur Demokratie

Der Bürgerbeirat Corona ist für die Innovation in Politics Awards 2021 nominiert, mit denen Projekte zur Stärkung der Demokratie in Europa ausgezeichnet werden. Beiratsmitglied Gertrud Hammel lobte das Gremium als „großen Beitrag zur Demokratie“. Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble spricht Bürgerbeiräten – speziell auf Bundesebene – ebenfalls eine stabilisierende Wirkung für die Demokratie zu. Ihr stabilisierender Faktor, so Schäuble, liege in der Bereitschaft, offen für Neues zu sein und „das Verständnis für die Komplexität politischer Fragen und demokratische Entscheidungsprozesse zu vertiefen.“

OB Weber: „Wir alle haben von diesem Austausch profitiert“

Diesen Gedanken griff auch Oberbürgermeisterin Eva Weber in ihrer Schlussbilanz auf: „Von diesem Austausch, auch wenn er manchmal anstrengend war, haben wie alle profitiert. Deshalb danke ich Ihnen allen sehr, dass Sie sich auf dieses Experiment eines Bürgerbeirats eingelassen haben und sich die Zeit dafür genommen haben. Sollte der Bürgerbeirat Corona den Innovationspreis für Politik erhalten, dann ist das ein Preis, der an Sie alle geht“, so die OB. (erz)